Wie haben sich anthroposophische Medizinerinnen und Mediziner im Nationalsozialismus verhalten? Das fragen die Autor:innen – Prof. Dr. med. Peter Selg, Susanne H. Gross und Matthias Mocher – der auf drei Bände angelegten Studie "Anthroposophische Medizin, Pharmazie und Heilpädagogik im Nationalsozialismus 1933 – 1945" und zeigen mit einer differenzierten Betrachtung, dass dies in seiner geschichtlichen Wirklichkeit nicht mit den polaren Beschreibungen von Widerstand versus Kollaboration erfassbar ist.
Der im Mai 2024 neu erschienene Band 1 "Anthroposophie und Nationalsozialismus. Die anthroposophische Ärzteschaft" behandelt die Vorgeschichte der Anthroposophischen Medizin ab 1920, die anthroposophischen Reaktionen auf die Machtübernahme sowie den Umgang des NS-Regimes mit der Anthroposophischen Gesellschaft, ihren einzelnen Berufsgruppen und Institutionen. Auch das Verhalten der anthroposophischen Ärzteschaft in Deutschland kommt in den Blick, ebenso die Eingliederung eines Teils der Ärzteschaft in die "Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde". In Einzelstudien werden anthroposophische Ärztinnen und Ärzte vorgestellt – kollaborierende sowie widerständige. Zum Schluss geht es um die dramatischen Fluchtwege anthroposophischer Ärztinnen und Ärzte jüdischer Herkunft.
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Geleitwort von Prof. Dr. Thomas Beddies und Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach
Die Anthroposophische Medizin stand und steht in historischer Perspektive, aber auch aktuell (Corona/Impfskepsis) unter kritischer Beobachtung und manchmal polemischer Kritik (nicht nur) der «Schulmedizin». Auch vor diesem Hintergrund stellt es zweifellos eine Herausforderung dar, wenn die Bearbeiter_innen eines historischen Projekts zur Anthroposophischen Medizin im Nationalsozialismus selbst der Anthroposophie verbunden sind. Unseres Erachtens, das sei hier vorweggenommen, ist es den Autoren der vorliegenden Studie jedoch nicht nur gelungen, kritische Distanz zu ihrem Forschungsgegenstand zu halten; vielmehr profitiert die Untersuchung auch von der Vertrautheit der Autoren und Bearbeiter_innen mit der Geschichte und Gegenwart der Anthroposophischen Medizin, ihrer Strukturen und Akteur_innen.
Die Neigung führender NS-Politiker zur Naturheilkunde oder biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise, wie es zum Beispiel für Heinrich Himmler (Reichsführer-SS) und Julius Streicher (Gauleiter Franken) zutrifft oder auch für den Mediziner, Verbrecher und KZ-Arzt Sigmund Rascher, der aus einer anthroposophisch orientierten Familie stammte, verweist auf die Nähe hoher NS-Repräsentanten und menschenverachtender NS-Ärzte zu anthroposophischen Praktiken und Positionen. Hier eröffnete sich zeitgenössisch ein Dilemma, indem einerseits der
ganzheitliche, individualisierende und menschenfreundliche Ansatz der Anthroposophischen Medizin den Nützlichkeitserwägungen der NS-Medizin, ihrem Rassismus, der Betonung eines «Volkskörpers» durchaus entgegenstand, andererseits aber die genannten Berührungspunkte unzweifelhaft bestanden. In der Zwangslage zwischen Verbot und Anerkennung waren die Möglichkeit und die Versuchung gegeben, sich mit dem Regime zu arrangieren und die spezifische Bedeutung für die NS-Medizin herauszustellen, um damit letztlich ein gemäßigtes Vorgehen gegen die Anthroposophie herauszuhandeln.
Den Bearbeiter_innen des vorliegenden Bandes um Peter Selg ist es gelungen, durch intensives Quellenstudium und eine umfassende Rekonstruktion des breiten Spektrums von Akteuren ein differenziertes Bild der anthroposophischen Ärzt_innen zwischen 1933 und 1945 zu zeichnen. So wird eine eigene Rubrik «NS-Affinität, Anpassung und Kooperation» mit Einzelbiographien gefüllt, dabei wird auch die Familie Rascher betrachtet und die Kooperation von Weleda mit Sigmund Rascher im Kontext von dessen Kälteversuchen im Konzentrationslager Dachau dargestellt. Diese Kooperation wird durch Abhandlungen zu Personen, die sich dem Regime verweigerten, Widerstand leisteten oder fliehen mussten, kontrastiert. Das von den Autor_innen gezeichnete Bild deckt alle diese Seiten in ihren vielschichtigen Schattierungen ab. Die präsentierte Materialfülle bildet eine solide Basis der Darlegungen und macht diese für die Leserschaft sehr gut nachvollziehbar. Die Untersuchung liefert damit für die Forschung zur Anthroposophischen Medizin im Nationalsozialismus in großem Umfang neue und differenzierte Erkenntnisse, welche das Buch absehbar zu einem Standardwerk machen werden.
Der hier vorgelegte Band 1 der auf insgesamt drei Bände angelegten Studie über «Anthroposophische Medizin, Pharmazie und Heilpädagogik im Nationalsozialismus » beschäftigt sich im Wesentlichen mit der Geschichte der Anthroposophischen Medizin vor 1933 und mit der Stellung dieser komplementärmedizinischen Richtung im NS-Gesundheitssystem. In Band 2 soll das Verhalten der anthroposophischen Arzneimittelhersteller Weleda und WALA in der NS-Zeit analysiert werden, deren Produktion bis 1945 trotz zahlreicher Repressionen aufrechterhalten wurde. Gefragt wird unter anderem, wie hoch der Preis des Firmenüberlebens jeweils war, und auch, ob die bisherigen Darstellungen der Firmengeschichten in der NS-Zeit einer kritischen Überprüfung mit Sichtung aller noch vorhandenen und in Frage kommenden Archivalien standhalten. In Band 3 schließlich geht es um die anthroposophische Psychiatrie und die heilpädagogischen Heime anthroposophischer Orientierung, darunter acht heilpädagogische Institute, in denen bereits Anfang der 1930er Jahre ca. 500–600 Kinder und Jugendliche betreut wurden. Untersucht wird, wie diese anthroposophischen Institutionen unter dem NS-Regime weiterarbeiteten und mit dem Sterilisationsgesetz und der Sterilisationspraxis umgingen sowie mit der ab 1939 anlaufenden «T4-Aktion» und der Kinder-«Euthanasie». Dokumentiert werden darüber hinaus die Schicksale und Fluchtwege anthroposophischer Heilpädagoginnen und Heilpädagogen jüdischer Herkunft; ausführlich widmet sich der Band dem Leben und Werk des jüdisch-anthroposophischen Arztes und Heilpädagogen Karl König und dem Aufbau der durch ihn bestimmten therapeutischen Camphill-Gemeinschaft in Schottland 1939–1945.
Das Erscheinen der beiden noch ausstehenden Bände 2 und 3 ist für 2024 und 2025 vorgesehen. Im jetzt vorliegenden Band 1 werden die sich wandelnde Haltung des Regimes zur Anthroposophischen Medizin auf der einen, aber auch die individuellen und kollektiven Reaktionen anthroposophischer Mediziner_innen und ihrer Verbände auf die NS-Gesundheitspolitik auf der anderen Seite betrachtet. Die Spannbreite reichte hier von Hoffnungen im Hinblick auf einen Bedeutungszuwachs im Rahmen einer «Neuen Deutschen Heilkunde» bis hin zu konkreten (und sehr berechtigten) Befürchtungen (Überwachung, Restriktionen und Verbote) im Prozess der sogenannten Gleichschaltung. Darüber hinaus widmet sich die Untersuchung einer grundsätzlichen und nicht einfach zu beantwortenden Frage, nämlich nach der Zugehörigkeit einzelner Personen zur anthroposophischen Ärzteschaft. Dabei geht es darum, wer im engeren und weiteren Sinn überhaupt zur anthroposophischen Ärzteschaft gerechnet werden kann, wie der heterogenen und nicht in einem Verband organisierten Gruppe historisch auf die Spur zu kommen ist und unter welchen Gesichtspunkten sich Teilgruppen definieren und untersuchen lassen (politisch und «rassisch» verfolgte, widerständige oder «angepasste» Mediziner_innen, Exilant_innen, Ärzt_innen in Niederlassung oder in Kliniken, heilpädagogisch orientierte Kolleg_innen, Homöopath_innen, «Naturärzt_innen»). Mit einer Fülle aufwendig recherchierter biographischer Mikrostudien gelingt es den Autor_innen hier sehr gut, die Spannbreite individueller und gemeinsamer Reaktionen auf den aufkommenden und sich verfestigenden Nationalsozialismus zu veranschaulichen und zu belegen.
Detailliert wird in der Einleitung das wissenschaftliche Vorgehen reflektiert, die Quellenlage beschrieben (die als ausgesprochen umfangreich bezeichnet werden kann); nachvollziehbar werden aber auch die Limitationen der Untersuchung thematisiert. Positiv ist hervorzuheben, dass es den Autor_innen möglich war, auch bislang unbekannte Quellen zu heben und sie mit bereits bekannten Beständen zu verknüpfen, um so zu neuen Erkenntnissen zu gelangen und auch mit zum Teil lange fortgeschriebenen Irrtümern aufzuräumen. Sehr gut gelingt es, die Ergebnisse dieser mehrjährigen Quellenarbeit in zahlreichen Archiven des In- und Auslands in einer gut lesbaren und strukturierten Darstellung zusammenzuführen.
Der Anspruch, das Werk als «Studien- und Arbeitsbuch» einer breiten Leserschaft zur kritischen Beschäftigung mit der Materie zur Verfügung zu stellen, ist damit in hervorragender Weise eingelöst.
Berlin im Sommer 2023
Prof. Dr. Thomas Beddies und Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach
Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin
Anthroposophie und Nationalsozialismus. Die anthroposophische Ärzteschaft
(Anthroposophische Medizin, Pharmazie und Heilpädagogik im Nationalsozialismus 1933–1945, Band 1)
P. Selg, S.H. Gross, M. Mocher
Gebundene Ausgabe – Mai 2024 Schwabe Verlag, 916 Seiten, ISBAN: 978-3-7965-5028-7
Die jetzt vorliegende Studie wurde von der Akademie GAÄD in Auftrag gegeben und gefördert.